
© Sylvia Witt
Oliver Uschmann
Oliver Uschmann wurde 1977 in Wesel geboren, gehörte in der Schule zu den zehn sonderlichsten Sonderlingen und absolvierte seinen Zivildienst im urologischen OP eines katholischen Hospitals. Er arbeitete bei UPS, brach eine Ausbildung zum Buchhändler nach einem Tag ab, studierte Literatur und Englisch an der Ruhr-Uni Bochum und versuchte dort nebenher, als Punksänger, Demonstrant und Herausgeber eines zornigen Minimagazins die Revolution zu verursachen. Heute lebt er mit seiner Frau Sylvia Witt samt Katzen und Teichfischen auf dem Land und erschafft mit ihr tagtäglich neue Bücher, darunter die Romane der Hartmut und ich-Reihe sowie den humorvollen Thriller "Das Gegenteil von oben". Außerdem hilft er als „Wortguru“ Nachwuchsautoren auf die Sprünge und schreibt regelmäßig für die Magazine GEE und VISIONS. Er ist gut vertraut mit Gangsta-Rap, selber aber niemals ein Gangsta gewesen.
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Herr Uschmann, mit Ihren „Hartmut und ich“-Büchern feierten Sie bereits große Erfolge. Was hat Sie dazu bewegt, nun einen Roman über das Verhalten junger Männer zu verfassen?
Ich habe nie vergessen, wie das Leben damals war. Die lauten Schikanen durch die Gangsterjungs, von denen man sich in Wirklichkeit gewünscht hätte, dass sie sich am Ende als Schauspieler mit zugänglichem Kern entpuppen. Die leise Schikane durch „Schulfreunde“, die keine gleichberechtigte Freundschaft zulassen, sondern immerfort ihre Überlegenheit präsentieren müssen. Das sind in „Das Gegenteil von oben“ nur Nebenstränge, aber mit dem Bedürfnis, dies zu verarbeiten, fängt so ein Schaffensprozess an. Der Roman ist voll mit Schauplätzen, Gefühlslagen und Ängsten meiner eigenen Jugend, gebannt durch die literarische Form und schließlich maßvoll auf die Spitze getrieben. Dennis is introvertierter und ängstlicher als ich selbst jemals war, nimmt aber auch die politischen Widersprüche in den Haltungen seiner Lehrer so selbstsicher auseinander, wie ich es gerne gekonnt hätte. Abseits meiner eigenen Biografie schreibe ich so einen Roman, weil die Welt des Jugendbuchs einen Protagonisten wie Dennis braucht. Es wird eine große Erleichterung für viele Jungs sein, lesen zu dürfen: "Da gibt es noch einen, der so verschroben ist wie ich. Ich bin nicht allein." So etwas ist wichtig.
„Das Gegenteil von oben“ beschreibt sehr authentisch das Lebensgefühl eines Fünfzehnjährigen. Nun sind Sie ja schon einige Jährchen aus diesem Alter raus. Wie schaffen Sie es, dennoch den Ton und die Gefühlslage so genau zu treffen?
Ich weiß nicht, ob das auf alle Schriftsteller zutrifft, aber meine eigene Zeitlinie verblasst für mich niemals. Ich muss mich nicht mühsam an Situationen aus meinem achten, zwölften oder fünfzehnten Lebensjahr „erinnern“, sondern erlebe sie so präsent, als sei es gestern gewesen. Sie könnten mich hier und jetzt in mein Teenager-Zimmer zurückbeamen und ich würde ohne Probleme wissen, bei welchem Speicherpunkt ich „The Legend Of Zelda“ zuletzt verlassen habe oder dass kommenden Samstag das schulübergreifende Hallenturnier stattfindet. Ich rieche den Bodenbelag der Turnhalle, ich spüre das Bedürfnis, „Christoph“ eine zu verpassen. Ich bin erleichtert, dass ich heute stark bin, aber ich weiß noch exakt, wie es war, „Das Gegenteil von oben“ zu erleben. Als Autor bin ich fähig zur Zeitreise.
Haben junge Männer heute mit anderen Problemen zu kämpfen als vor 15 oder 20 Jahren?
Die existentiellen Grundprobleme sind sicherlich die gleichen: Wie bezirze ich dieses Mädchen? Was soll ich werden? Wie behaupte ich mich in der Gruppe? Wer bin ich überhaupt? Was sich sicherlich verändert hat, ist der Bezugsrahmen, in dem man als junger Mann solche Fragen mit sich und der Welt verhandelt. Der ist verwirrend geworden, und schwammig. Einerseits erscheint die Welt zu einem einzigen Schlachtfeld geworden zu sein, in dem nur überlebt, wer jedem misstraut. Der Nachbar ein Kinderschänder? Der Mann mit der Tasche auf Gleis 7 ein Terrorist? Mein Papa – falls vorhanden – morgen arbeitslos ohne eigenes Verschulden? Das sind ganz selbstverständliche Gedanken geworden. Auf der anderen Seite sind die Teenager nach dem Ende der bürgerlichen Familie und der halbwegs stabilen Verbindlichkeit der christlichen Religion nun von halbgaren Ersatzreligionen mit säkularen Priestern umgeben, die auf eine scheinbar sanftere Art Unterwerfung fordern. Nicht nachfragen, dem Staat vertrauen und im Zweifel Moralismus vor persönliche Moral stellen. Daher die Figur der Ur-Oma, die in ihren „Verschwörungstheorien“ auch sehr viel Wahres sagt.
Dennis ist einerseits Philosoph und Weltverbesserer, andererseits introvertierter Playstation-Konsument. Verkörpert er die Synthese aus den beiden Protagonisten ihres „Hartmut und ich“-Universums – und steckt am Ende sogar ein wenig Uschmann in ihm?!
Nachdem Uschmann sich selbst (und Anteile enger Freunde) im Hui-Universum heiter-schizoid auf mehrere Charaktere verteilt hat, führt er sich in Dennis wieder halbwegs zusammen. Das darf man so sagen, ja. Wobei Dennis genau wie Hartmut die Courage hat, Dinge zu tun, die ich nur auf dem Papier tue. In fremde Keller einbrechen, etwa, oder seine Lehrer argumentativ in Grund und Boden stampfen. Letzteres hole ich allerdings heute in der Wirklichkeit ca. drei Mal die Woche nach, wenn Bofrost, der örtliche Wanderzirkus oder die Zeugen Jehovas an unsere Haustür klopfen. Auch Anrufe von Zeitungs- oder Umfrageunternehmen sind da sehr dankbar.
In Ihren Texten fangen Sie den Alltag auf unterhaltsame und zugleich äußerst pointierte Art ein. Aber da ist noch eine andere Ebene, eine gesellschaftskritische, wenn Sie mit der Figur von Dennis den Alltag eines Jungen skizzieren, der ohne männliche Bezugsperson aufwächst. Sehen Sie darin ein Dilemma unserer Gegenwartsgesellschaft: das Fehlen männlicher Identifikationsfiguren? Oder anders formuliert: Fehlt den Jungs von heute ein Vorbild, an dem sie sich abarbeiten können?
Ja. Es ist ein ganz einfacher Dualismus. Ohne Negativfolie kein Kontrast. Harald Schmidt hat einmal sinngemäß gesagt, der Katholizismus sei die Leiter gewesen, die er überhaupt erst mal erklimmen musste, um sie dann mit Überzeugung abzustoßen. Das ist ein schönes Bild. Niemand will in die Zeit zurück, als auf Wohnungstüren noch „Frau Hermann Schmidt“ stand, aber das bedeutet im Umkehrschluss auch nicht, jede Form konstruktiver „Männlichkeit“ in gendermainstreamiges Wohlgefallen aufzulösen. Die Fähigkeit und Kompetenz, sich um etwas zu kümmern. Geistiges Unternehmertum. Eine gefestigte Haltung in Kerndingen. Das ist etwas Gutes und das löst sich auf. Zugunsten von was? Einer besseren Welt? Nein. Zugunsten eines Menschen, der immer gut drauf, ständig auf dem Sprung und so flexibel ist, dass er gar kein Rückgrat mehr hat. Die so genannten gebildeten und zivilisierten Menschen haben scheinbar progressiv das Kind mitsamt Bad, Badewanne, Badezimmer und Obergeschoss ausgeschüttet. Schauen Sie sich Dennis an: Er ist kein Macho, er leidet unter den Machos am Hochhaus, er ist hochsensibel, er will eine angstfreie Welt ohne Rollenspiele. Zugleich beschimpft er den Zivi, der im Pflegeheim dem alten Mann den Zitronenkuchen wegnimmt, als respektlos, weil der alte Mann im Krieg gekämpft hat. Diese Ambivalenz tragen viele junge Männer in sich.
Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. Welche Bedeutung kommt Ihrer Meinung Videospielen zu, die in Dennis´ Leben eine wichtige Rolle spielen?
Videospiele haben mir teilweise intensivere Erlebnisse beschert als sehr viele Filme und manche Bücher. Sie sind fähig, Stimmungen auszudrücken und Situationen zu arrangieren, die wegen ihrer Interaktivität einmalig sind. Sie machen uns zu Göttern und Bürgermeistern, zu Soldaten und Helden mit Identitätsproblemen, zu Zeitreisenden oder Themenparkmanagern. Sie sind ästhetisch eigensinnig, als Kunstform unglaublich vielfältig und als Medium sowohl fähig, uns glücklicher und klüger wie auch uns zurückgezogener und besessener zu machen. Den Kosmos rund um die „Hartmut und ich“-Romane arrangieren meine Frau Sylvia Witt und ich nicht umsonst als interaktive Welt samt begehbarer Internetwohnung, Flashgame-Seite und Quizwettbewerb. Das Spielerische ist der Keim der Freiheit. Auch in den Romanen, die bei uns in engster Zusammenarbeit entstehen, verstecken wir deshalb unablässig kleine Ostereier. So tauchen in „Das Gegenteil von oben“ plötzlich Hartmut und ich auf und dieselbe Szene wird – so viel sei bereits verraten – im fünften Hui-Roman im Jahre 2010 aus der Sicht des Hartmut-Erzählers erzählt. Die Romanwelten sind sozusagen unser Adventure, in dem sich alles mit der Zeit zu einem großen Ganzen fügt.